Performing
the Model
Markus Lutter baut Modelle für die Potenzialität der Realität. Er testet und inszeniert Material sowie Situationen und (er)findet dabei Möglichkeitsräume jenseits der Illusion. Diese füllt er mit seinem Interesse für den performativen Charakter des Vorgefundenen.
Das Modell als statischer Entwurf eines zukünftigen Status Quo stellt er in Frage. Seine Modelle haben eine aktivierende Identität, sie lösen Handlungen aus und machen damit Zeitachsen wahrnehmbar. Abseits konventioneller Zuschreibungen setzt er das Modell in einen Handlungszusammenhang.
Anfang. Mitte. Ende.
Anfang.
Was selbst nicht notwendigerweise auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht ( 1 ) .
» Kulisse « (2011) . Ein 5 x 3 Meter großes Modell einer Hausfassade im Garten der Akademie der Bildenden Künste München. Vor dem Haus eine Bank mit Blick auf den See. Geöffnete Fensterläden, ein Balkon mit Brüstung. Von hinten: eine Attrappe. Von vorne: eine Bühne, ein gebautes Bild. Welche Handlungen bringt sie hervor? Wie begegnet man ihr? Welche Begegnungen wird sie ermöglichen?
Mitte.
Was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht ( 2 ) . Tatsächlich: ein Ast stürzt unerwartet auf die Kulisse. Das Schauspiel beginnt: Der schwere Ast wird von Arbeitern aus der Szenerie gehievt. Die » Kulisse « wird bespielt. Sie ist zum Handlungsraum geworden.
Ende.
Was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel (also höchstwahrscheinlich), während nach ihm nichts anderes mehr eintritt ( 3 ) . Das Material (Holzbalken, MDF Platten, Gips, Kalkfarbe) verliert mit der Zeit die Form. Die Kulisse wird demontiert.
Ende.
Markus Lutter performt das Modell – er bringt es zur Aufführung in seiner jeweiligen Zeit-und Ortsbezogenheit. Ausgehend von den Gegebenheiten eines Ortes konzipiert er einen Entwurf desselben, der den originären Raumzusammenhang zwar wiedergibt, ihn jedoch für eine fiktive Neuerfindung öffnet. Das Hier und Jetzt unserer Anwesenheit
innerhalb dieser gebauten Realität kommt so zum Tragen. Seine Modelle haben eine aktivierende Identität, will heißen, der Betrachter ist Teil der Arbeit. Statt ihr gegenüberzustehen, wird er in sie hineintreten. Ob er will oder nicht.
Die Diplom-Installation » Der Versuch sich selbst zu übertreffen « (2015) integriert den Betrachter auditiv.
Ein Modell des Vestibüls der Akademie der Bildenden Künste München im Maßstab 1:20, platziert in der Mitte dieser einst repräsentativen Empfangshalle des palastartigen Gründerzeitbaus von 1886. Ein monumentaler Lautsprecherboxenturm legt die Technik offen. Durch eine Wasserpumpe wird eine geringe Menge Wasser in eine fragile Fahnenstange innerhalb des Modells geleitet. Aus dem durchnässten Flaggenstoff, der am oberen Ende angebracht ist, fallen Wassertropfen auf ein Mikrofon. Das entstehende Tropfgeräusch wird über Lautsprecher verstärkt in das gesamte Vestibül übertragen. Eine unkalkulierbare Soundstruktur erfüllt den originalen Raum und wird zur physischen Erfahrung.
Das provisorisch anmutende Modell weist über sich hinaus, es stellt Fragen an den Raum, den es vermeintlich darstellt, dessen ursprüngliche und aktuelle Bedeutung und Relevanz. Lutters Installation macht die Opulenz des Raumes spürbar und führt den Repräsentationsgedanken des 19. Jahrhunderts ad absurdum. Zur Zeit der Akademiegründung wurde die Stellung der Kunst in der Gesellschaft anhand von architektonischer Monumentalität dargestellt. Welche Rolle nimmt die Repräsentation im aktuellen Kunstdiskurs ein und welche Position hat die Institution Kunstakademie dabei? Der dumpfe Laut des Wassertropfens in » Der Versuch sich selbst zu übertreffen « macht die diffuse Antwort zu einer physischen Erfahrung für den Betrachter.
Der Philosoph und Wissenschaftshistoriker Marx W. Wartofsky vertritt die These, dass Modelle stets ein imperatives Potential entfalten. Für ihn sind Modelle verkörperte Handlungen. ( 4 ) Bei Lutters Arbeit » Spaziergang 35,05 min « (2014) könnte es sich genau um eine solche handeln. Das hybride Gebilde aus Kieselsteinen, Zement, Pappe, Stoff und Farbe transformiert den Akt eines 35,05-minütigen Spaziergangs durch den Botanischen Garten München bei Regen in ein dreidimensionales Objekt. In der Betrachtung liegt die Aufforderung, sich die unwahrscheinliche Gleichzeitigkeit von etwas Anwesendem und etwas Abwesendem vor Augen zu führen.
Die Diskrepanz zwischen Realität und phantasiertem Konstrukt kulminiert im tropfenden Sound, der extern abgespielt wird. Das Geräusch wurde von Lutter analog mit dem Mund erzeugt und aufgenommen. Als eine Art Lautgedicht versetzt es das Objekt in Schwingung, die Erfahrung des Spaziergangs lässt sich so anhand dieses unbeweglichen Objekts nachvollziehen.
Markus Lutter legt den Produktionsprozess seiner Arbeit stets offen. Er interessiert sich für das rohe Material, das dem Betrachter Ehrlichkeit suggeriert und somit eine distanzierte Betrachtung erlaubt.
Das Ergebnis sind Entwürfe möglicher Perspektiven, die das Gegebene in einem neuen Licht erscheinen lassen. Alternativen nicht ausgeschlossen. — J. M.
( 1 ) – ( 3 ) siehe Aristoteles, » Poetik «, herausgegeben und übersetzt von Manfred Fuhrmann, München 1976, insbesondere S. 55
( 4 ) vergleiche Marx W. Wartofsky » Telos and Technique. Models as Modes of Action «, in: » Models. Representations and the Scientific Understanding «, herausgegeben von demselben, Boston und London 1968/ 79, S. 140-153